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Fallbeispiel 1

Im folgenden Ausschnitt aus einer Paarberatungs-Sitzung habe ich alle Hinweise auf reale Personen entfernt. Ich verwende drei verschiedene Formatierungsarten.

Fett: Fallbeispiel

Kursiv: meine Beobachtungen, Gedanken und Gefühle dazu

Standartformatierung: Allgemeines zur Paartherapie

Nach einem Streit, in dem die Frau dem Mann vorwirft, sie als dumm behandelt zu haben, entschuldigt er sich schließlich halbherzig für seinen unfreundlichen Ton von damals und verspricht, sich zu bessern. Die Entschuldigung zeigt keine Wirkung. Im Gegenteil, die Frau wird noch aufgebrachter.

Ihre Wut steht nicht im Verhältnis zum tatsächlich Vorgefallenen. Das weist darauf hin, dass der Mann eine alte Wunde bei ihr getroffen hat.
Ich könnte mit der Frau daran arbeiten, warum sie so getroffen ist. Da ich eine geballte Wut bei ihr wahrnehme, fürchte ich, dass sie im Moment für die darunterliegenden Gefühle nicht empfänglich ist. Ich könnte sie auch die Wut differenzierter ausdrücken lassen. Das scheint mir unfair dem Mann gegenüber, weil die starke Reaktion,
wie schon gesagt, nicht im Verhältnis zu seinem Fehlverhalten steht. Auch ist es keine Wut, die man stärken sollte, um die Lebenskraft darin freizusetzen. Ich halte es für eine Wut, die man besser umgeht bzw. verpuffen lässt. Das Wissen um die alte Wunde der Frau behalte ich im Hinterkopf, um zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückzukommen. Ich entschliesse mich, zunächst mit ihm weiterzuarbeiten.

Ich bitte den Mann, kurz die Augen zu schliessen, sich zu sammeln und zwei klare, kurze Sätze zu formulieren dazu, dass er sie intelligent finde und dass ihm sein unfreundlicher Ton leid tue.

Während ich das sage, bemerke ich aus den Augenwinkeln, dass die Frau sich entspannt.

Er holt weit aus, erklärt und rechtfertigt sich. Seine Worte erreichen die Frau nicht. Ich stoppe ihn zweimal und erkläre, dass es wichtig sei, kurze Sätze ohne Wenn und Aber zu finden und dass er langsam sprechen und seiner Frau dabei in die Augen schauen solle. Er müsse nicht meine Worte übernehmen, er solle eigene Formulierungen finden, die für ihn stimmen.
Endlich gelingt ihm die Anerkennung ihrer Intelligenz mit eigenen kurzen Worten. Er findet auch einen Satz dazu, dass ihm sein Verhalten leid tue. Die Frau hat augenblicklich Tränen in den Augen, schweigt und lehnt sich entspannt zurück.

Mit dem Satz „ich finde dich intelligent“ fühlt sich die Frau in ihrer Angst, nicht intelligent genug zu sein, gesehen und ernst genommen. Und gleichzeitig kann der Satz sie in dieser Angst beruhigen. Der Mann meint es ehrlich und die Frau ist in der Lage, seine Anerkennung anzunehmen, sie an sich heranzulassen. Auch seine Entschuldigung kommt jetzt bei ihr an.
Der Öffnung der Frau ist ein klärender Prozess beim Mann vorausgegangen. Während des Ringens nach eigenen Worten für den von mir vorgeschlagenen Inhalt entdeckt er bei sich selbst eine subtile Überheblichkeit aufgrund seiner höheren Schulbildung. Er erkennt, dass seine Frau eine von schulischer Bildung unabhängige hohe Intelligenz hat. Nun kann er einen kurzen, klaren Satz mit fester Stimme und zugewandtem Blick aussprechen. Augenblicklich stellt sich eine Ebenbürtigkeit zwischen ihnen ein. In diesem Moment kann die Frau sich öffnen.

In der Therapie wirkt ein kurzer Satz dann stark, wenn ein Klärungsvorgang vorangegangen ist. Er wirkt also nicht für sich alleine stark, sondern als Endprodukt eines Suchens im eigenen Innern  im Beisein des Partners.

Ich lasse der Frau eine Weile Zeit mit ihren Tränen. Dann sage ich, dass damit vielleicht auch noch alte Wunden geheilt würden. Er streichelt jetzt zärtlich ihr Gesicht. Das Paar ist  in einer liebevollen Verbindung miteinander.

Durch meinen Hinweis auf die Heilung alter Wunden öffnet sie sich tiefer und er fühlt sich ihr näher. Mit seinem Streicheln tröstet und nährt er das verletzte Kind in ihr.

Das verletzte innere Kind ist ein Bild für den Anteil in uns, der immer noch an den Wunden leidet, die ihm in der Kindheit zugefügt worden sind. Die Arbeit mit dem inneren Kind ist oft ein wichtiger Bestandteil der Paartherapie. Anders als in der Einzeltherapie kann hier der Partner eingebunden werden in die Versorgung alter Wunden. Das dient der Heilung und bringt die Partner einander näher.

Plötzlich taucht auf dem Gesicht der Frau ein wunderschönes, offenes Lächeln auf. Ich frage, was soeben in ihr vorgegangen sei. Ein Teil, der verloren war, sei zurückgekehrt. Sie erinnert sich an eine Situation in ihrer Kindheit. Ihre Mutter hatte ihr Unrecht getan und ihr Vater hatte sich stellvertretend für die Mutter entschuldigt. Die Mutter hätte das niemals selber gekonnt. Die Erleichterung damals habe sich ähnlich angefühlt wie die Erleichterung soeben. Das sei eine Art Ganzwerdung gewesen.

Die Frau ist so gut mit sich selber in Verbindung, dass sie von sich aus einen Bezug zur Kindheit herstellt.

Stellvertretend für einen Menschen, der sich nicht für sein verletzendes Verhalten zu entschuldigen vermag, kann eine andere nahestehende Person genau das übernehmen und damit der verletzten Person helfen, über die Kränkung hinwegzukommen. Es ist dasselbe Phänomen wie oben beschrieben, wenn ein Partner in die Versorgung einer Inneren-Kind-Wunde einbezogen wird.

Alles Weitere ergibt sich wie von selbst. Ich begleite die beiden mit Präsenz und Achtsamkeit bis zum nahen Ende der Sitzung.